Die Tragik-Komödie „Memoiren der Sarah Bernhardt“ hatte gestern Premiere im Theater Orlando. Die alternde Primadonna ist eine Paraderolle für Sylvia Meining. Ulf Goerges glänzt als ihr devoter Privatsekretär Goerges Pitou.
Von Britta Lübbers
Die Gäste sitzen eng an eng im kleinen Spielraum des Palais Rastede, nur wenige Schritte von der noch dunklen Bühne entfernt. Die Bernhardt kommt herein, sie geht am Stock und hinkt. Ihr golden schimmerndes Kleid erinnert an die Samtvorhänge bürgerlicher Salons in der Belle Époque. Sie stellt das krächzende Grammofon an und hält ihr Gesicht dem jetzt leuchtenden Bühnenschweinwerfer entgegen. Er steht für die Sonne, und mit der Sonne liegt die Bernhardt an diesem heißen Augusttag irgendwo am Meer ordentlich über Kreuz. Denn die Sonne wird eines Tages erlöschen. Wie aber soll dann ihr eigener, menschlicher Glanz überstehen?
Sie quält sich zum Ohrensessel, der einem Thron gleicht, und auf einem erhöhten Podest steht. Dieses Podest wird für die kommenden rund 80 Minuten ihre ganze Welt sein; eine schillernde Welt, die sie durchmisst, durchschreitet, durchhumpelt. Auf diesem winzigen Areal wird sie ein unglaubliches Leben Revue passieren lassen, das geprägt ist von Liebe, Lügen und Skandalen, von Eleganz und Ruhm – und von brausendem Applaus. Der klingt in ihr nach. Das tragisch-komische Stück von John Murell unter der Regie von Björn Kruse zeigt die berühmteste Schauspielerin aller Zeiten als verblühte Schönheit. Sie ringt mit ihrem Alter und der Endlichkeit. Sie möchte die Vergänglichkeit aufhalten und diktiert ihrem Privatsekretär Georges Pitou (den es tatsächlich gab) eine Biografie, die so schillernd ist, dass niemand sie hätte erfinden können. Mit einer Ausnahme: sie selbst. Denn Sarah Bernhardt, die mühelos Männer und Frauen verzauberte, strickte lustvoll an ihrer eigenen Legende, und zwar so erfolgreich, dass der Schriftsteller Alexandre Dumas gesagt haben soll: „So genial wie sie lügt, ist sie in Wahrheit vielleicht dick.“
Dick war sie nie, aber unglaublich exzentrisch. Sie trug eine tote Fledermaus am Hut und ließ sich lebend im Sarg ablichten. Ihre Extravaganz bekommt auch Pitou zu spüren. Sie nötigt ihn, in die Rollen jener zu schlüpfen, die ihr einst am Herzen lagen oder im Weg herumstanden – angefangen von der lieblosen Mutter, die das aufsässige Kind in eine bretonische Pflegefamilie und dann ins Kloster gab, bis hin zu ihren verflossenen Liebhabern. Pitou mag das Spiel nicht, windet sich, hasst die verordneten Rollenwechsel, aber die Bernhardt kennt kein Erbarmen. Sie zieht ihm die Jacke verkehrt herum an, setzt ihm ein Tischtuch auf – et voilà: Fertig ist die Mutter Oberin. „Sie erinnern mich an Tierchen, die man am Strand findet“, macht sie sich über den devoten Mann lustig. „Immer wenn ich Sie berühre, zucken Sie zusammen und wechseln die Farbe.“
Sarah Bernhardt (1844-1923) gilt als der erste Weltstar der Geschichte. Sie verkörperte einen neuen, selbstbewussten Frauentyp, begeisterte als Kameliendame ebenso wie in ihrer Hosenrolle als Prinz Hamlet. „The Show must go on“, dieses Motto hätte von ihr sein können. Sie machte immer weiter, auch dann, als ihr nach einem Bühnenunfall das Bein amputiert werden musste.
Sylvia Meining spielt die Diva in all ihren Facetten. Sie lässt sie träumen, zetern und zagen, bissig, spöttisch und verletzlich sein. Es ist ein großartiges Spiel über das Gelingen und das Scheitern, über Triumph und Niederlage, über die Wehmut des Alters und die Macht der Erinnerungen. Brillant tritt auch Ulf Goerges auf. Er gibt den gequälten, verzagten, verklemmten Pitou mit einer so zerknirschten Hingabe, dass man ihn in den Arm nehmen möchte.
Berückend ist eine der letzten Szenen: Pitou soll in die Rolle von Oscar Wilde schlüpfen. Der größte Dandy unter den Dichtern war gerade aus der Haft entlassen worden, man hatte ihn wegen seiner Homosexualität ins Gefängnis geworfen. Jetzt treffen sich der gebrochene Wilde und die Bernhardt am Strand. Es ist eine leise Begegnung unter einem hellen Sonnenschirm. „Wir haben die Welt nicht besser gemacht, aber weiter“, sagt er. „Wird man sich an uns erinnern?“, fragt die Bernhardt. „Ich weiß es nicht, aber sie täten gut daran“, antwortet Wilde.
Das Publikum erinnerte sich, tat gut daran, und applaudierte sehr lange.
Diesen Artikel drucken